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»Augstein hat eine Grenze überschritten«
Noch immer dauert die Debatte über Jakob Augstein und seine Erwähnung in den »2012 Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs« des Simon Wiesenthal Centers (SWC) an – eine Debatte, in der sich die Grenzen des Unsäglichen in Bezug auf die »Israelkritik« noch einmal derart stark verschoben haben, dass selbst übelste Tiraden gegen den jüdischen Staat äußerstenfalls als »grenzwertig«, keinesfalls aber als antisemitisch qualifiziert werden. Überdies hat der Spiegel den stellvertretenden Direktor des SWC, Rabbi Abraham Cooper, scharf angegriffen. Dieser hatte seine Zustimmung zu einem gemeinsamen Interview des Magazins mit ihm und Augstein davon abhängig gemacht, dass Letzterer sich zuvor entschuldigt. Für Lizas Welt sprach Stefan Frank mit Rabbi Cooper über die »Top Ten«, Augsteins »Israelkritik« und die Diskussion in den deutschen Medien.
Lizas Welt: Was ist die Idee hinter der Liste der »Top Ten der antisemitischen und antiisraelischen Schmähungen?«
Rabbi Cooper: Die Top-Ten-Liste ist unser Versuch, eine Momentaufnahme von Beispielen des Mainstream-Antisemitismus zu liefern. Der wichtige Punkt dabei ist, dass es nicht um die Ränder der Gesellschaft geht. Darum befinden sich in der Liste Regierungen und Massenbewegungen – aus Iran, aus Ägypten – und extremistische Mainstreamparteien etwa aus Griechenland, Ungarn und der Ukraine.
Wer kam darauf, einen unbedeutenden deutschen Journalisten wie Jakob Augstein aufzunehmen?
In der Internetära gibt es keine »unbedeutenden« Beiträger beim Spiegel mehr. Wir haben eine internationale Schar von Mitgliedern und Onlineaktivisten, die uns aus allen Teilen der Welt informiert, auch aus Deutschland. Um es festzuhalten: Wir hatten keinen Kontakt zu Henryk M. Broder – nicht vor, nicht während und nicht nach der Auswahl. Die redaktionellen Entscheidungen wurden alle in Los Angeles von den führenden Mitarbeitern unseres Zentrums getroffen. Die Wahl von Herrn Augstein gründet sich auf das, was er gesagt hat, und darauf, wie er es gesagt hat. Und um auch das klarzustellen: Wir repräsentieren keine Regierung, auch nicht die des Staates Israel. Wir geben ihr keinen Blankoscheck dafür, ohne Kritik das zu tun, was immer sie tut. Die Israelis selbst sind jeden Morgen die ersten, die die Politik der Regierung kritisieren.
Wir kritisieren Herrn Augstein nicht dafür, dass er zum Beispiel Kommentare über die Haredi-Juden in Israel veröffentlicht. Die Haredim sind ein sehr wichtiges soziales und politisches Thema, das auch in Israel diskutiert wird. Worum es geht, ist, dass er in seinen Äußerungen die schlimmsten Stereotype benutzt, um eine ganze Gemeinschaft zu erniedrigen. Diese Äußerungen basieren nicht auf Tatsachen. Und wenn er Sachen sagt wie: die Haredim seien aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die Islamisten und folgten dem Gesetz der Rache, dann ist das wirklich völlig inakzeptabel. Was er sagt, ist nicht wahr und kann nicht belegt werden.
Das Gleiche gilt für seine anderen Auslassungen. Wollen Sie über Gaza reden? Ich glaube nicht, dass der Begriff »Lager« angemessen ist. Vielleicht liest Herr Augstein keine Zeitungen. Vielleicht schreibt er nur in ihnen. Jemand sollte ihm sagen, dass es im Gazastreifen schon seit etlichen Jahren keine Juden oder Israelis mehr gibt. Und was Israel als angeblichen Kriegstreiber betrifft oder Israel und die republikanische Partei in den Vereinigten Staaten als die klammheimlichen Sieger des leider gescheiterten arabischen Frühlings – das überschreitet einfach eine Grenze.
Und dann sind da noch seine Kommentare über die nukleare Gefahr im Nahen Osten, die nicht vom Iran, sondern von Israel ausgehe – auch hier wieder: Wo sind die Belege für solche Behauptungen? Rabbi Hier [der Direktor und Gründer des Simon Wiesenthal Centers] und ich haben in den letzten drei Jahren zahlreiche Führer der arabischen Welt und der Golfstaaten getroffen, von denen keiner Israel besonders freundlich gegenübersteht. Und sie alle sind wegen des iranischen Atomprogramms in großer Sorge und äußern offen ihre Angst. Sie drängen Präsident Obama, die Gefahr eines nuklearen Iran zu beseitigen.
Kurzum: Augstein wurde ausgewählt, weil er unmittelbaren und ständigen Zugang zum Mainstream der öffentlichen Meinung in Deutschland hat, einer wichtigen Demokratie. Indem er immer wieder die Linie dessen überschreitet, was Natan Sharansky die drei »D« nennt – doppelte Standards bei der Beurteilung, Dämonisierung und Delegitimierung Israels –, hat er sich seinen Platz in den Top Ten verdient.
Werfen wir einen Blick auf die deutsche Presse…
Das Wichtigste im Hinblick auf die deutschen Medien ist Folgendes: Meines Wissens hat sich kein deutscher Journalist an Herrn Augstein gewandt und zu ihm gesagt: »Hier sind die Worte, die Sie benutzt haben, können Sie verteidigen, was Sie über die Haredim sagen?« – von denen übrigens viele ihre Großeltern, Eltern, Ehepartner, Brüder oder Schwestern im Holocaust verloren haben. Ein großer Anteil der sechs Millionen, die von den Nazis ermordet wurden, fiele unter die Kategorie der Haredim. Niemand hat Augstein gefragt: »Wie können Sie solche Äußerungen rechtfertigen?«
Unsere wichtigste Antwort an die deutschen Medien ist: Warum lassen Sie nicht einfach – und endlich – Herrn Augstein direkt zu seinen eigenen Worten Stellung nehmen? Er schuldet den deutschen Lesern und dem jüdischen Volk – nicht uns, nicht dem Simon Wiesenthal Center – eine Entschuldigung.
Stattdessen gibt es mehr und mehr persönliche Angriffe gegen Sie. So wie im Spiegel, in dem der Redakteur Clemens Höges Sie als einen Spinner darstellt, der, als er gefragt wurde, ob er an einer Diskussion teilnehmen wolle, »absurde Forderungen« gestellt und E-Mails »wie aus einer anderen Welt« geschrieben habe. Höges kontrastiert das mit dem angeblich so sachlichen Augstein und fügt hinzu: Man müsse »böswillig oder auf Krawall aus sein«, um hinter dessen Äußerungen »einen Antisemiten zu sehen«. Der Vorspann des Artikels lautet: »Was ein gescheitertes Streitgespräch über die Dialogfähigkeit des Simon Wiesenthal Center sagt.« Der Artikel beginnt mit dem Satz: »Es wirkte wie ein gänzlich unerwarteter Tritt in den Rücken, verpasst von jemandem, der eigentlich als harmlos gilt.« Höges recycelt hier das Nazi-Motiv des Dolchstoßes in den Rücken. Überrascht es Sie, bei deutschen Journalisten soviel Bösartigkeit anzutreffen – wie auch eine solch große Phalanx der Augsteinverteidiger von ganz links bis ganz rechts?
Es stimmt, dass der Spiegel mich kontaktiert und ein gemeinsames Interview mit Herrn Augstein in einer der beiden Redaktionen, in Hamburg oder Berlin, vorgeschlagen hat. Meine Antwort war, dass ich einem solchen Treffen nur zustimmen würde, wenn Augstein sich für seine Äußerungen entschuldigte. Ich habe dem Spiegel gleichzeitig angeboten, dass er separate Interviews führen könne und ich dafür nach Deutschland kommen würde.
Nach der Veröffentlichung des Artikels war ich doch etwas überrascht: Seit 35 Jahren arbeite ich in diesem Bereich; 29 Jahre lang hatte ich die Ehre, an Simon Wiesenthals Seite sein zu dürfen. Zum ersten Mal erlebe ich nun, dass jemand private Gespräche oder Diskussionen zur Grundlage für eine öffentliche Verlautbarung macht. Mein Kommentar gegenüber dem Spiegel war der folgende: Der Mann hat öffentlich Aussagen getätigt. Er sollte – gegenüber dem Spiegel oder jemand anderem – Stellung nehmen zu den Äußerungen, die ihm in diesem Jahr Platz neun bei uns eingebracht haben. Das ist das Wichtigste, was zu geschehen hat.
»E-Mails wie aus einer anderen Welt«? Vielleicht. In der Welt, in der ich lebe, sagt man, dass jemand, der in einer Demokratie ein solch wichtiges Medium wie den Spiegel zu seiner Verfügung hat, die Verantwortung hat, darauf zu achten, dass das, was gesagt wird, innerhalb legitimer Kritik bleibt und die Grenzen nicht überschreitet. Leider haben die Äußerungen diese Linie überschritten. Ich wäre sehr glücklich, darüber mit dem Spiegel oder einem Sender zu sprechen. Die anfängliche, die Schlüsselfrage ist immer noch auf dem Tapet: Augstein zu den konkreten Zitaten Stellung nehmen zu lassen, die die Grenze zu den genannten drei »D« überschreiten.
Und die übrigens unter die Arbeitsdefinition des Antisemitismus-Begriffs der EU fallen. Leider sind viele deutsche Journalisten so voreingenommen gegen Israel, so ahnungslos, was die Definition und das Wesen des Antisemitismus betrifft, und leider ist der Gebrauch von antisemitischen Klischees wie dem des rachsüchtigen Juden oder dem des »Gängelbandes«, an dem Israel die Welt führe, für viele von ihnen so selbstverständlich, dass sie an Augsteins Ausfällen gar nichts Empörendes finden.
Bei allem Respekt: Ich frage mich, ob sie diese Ausfälle überhaupt gelesen haben. Sie sollten sich anschauen, was Augstein über die Haredim schreibt, zehn Prozent der israelischen Bevölkerung. Ich bin kein Haredi, ich habe meine eigenen Schwierigkeiten mit dem, was dort passiert. Viele Haredim schauen mich an und sagen, dass ich nicht jüdisch genug bin, weil ich mich nicht auf eine bestimmte Art kleide. Es geht nicht um Kritik. Es geht um die Dämonisierung einer ganzen religiösen Minderheit. Es gibt Haredim wie den Rabbi in Malmö; er und seine kleinen Kinder werden regelmäßig von Antisemiten überfallen. Sogar in Berlin gibt es leider sporadische Angriffe auf religiöse Juden.
Wenn jemand in einer Position ist, in der er der deutschen und internationalen Öffentlichkeit sagen kann, was er will, und er die Haredim das jüdische Äquivalent der Islamisten nennt, die der Welt Suicide Bombings, Terrorismus und Hass bringen, dann muss er Verantwortung für diese Worte übernehmen. Es ist wahr, dass die Haredim abgeschottet leben. Aber sie sind keine Terroristen. Sie werben nicht für Gewalt. Ich möchte nicht glauben, dass die Mehrheit der deutschen Journalisten, ganz zu schweigen von der deutschen Bevölkerung, solch einem Unsinn Glauben schenkt.
Und bevor nun jemand sagt: »Da kommt die Polizei der Political Correctness, die die Meinungsfreiheit eines Journalisten einschränken will« – ganz und gar nicht. Israel, die Haredim, alles, was angesprochen wurde, ist ein legitimer Gegenstand der Kritik. Wenn aber diese Kritik in so einen Zusammenhang gestellt wird, dann wird eine Linie überschritten. Genauso, wie Israel keinen Blankoscheck hat, hat ihn auch Herr Augstein nicht.
(Zuerst veröffentlich auf Lizas Welt.)
Freispruch für Deutschland
In der Debatte über die Berufung von Jakob Augstein auf eine Liste des Simon Wiesenthal Centers haben sich die Grenzen des Unsäglichen in Bezug auf die »Israelkritik« erneut verschoben. Noch die übelsten Tiraden gegen den jüdischen Staat sind – so meint eine ganz große Koalition von FAZ bis taz und von CDU bis Linkspartei – schlimmstenfalls grenzwertig, keinesfalls aber antisemitisch.
Es fängt schon mit simplen Fehlern im Rüstzeug an. Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit sollten sich als Prinzipien für jeden Journalisten eigentlich von selbst verstehen, doch ist es damit hierzulande oftmals nicht allzu weit her, auch diesmal nicht. Denn was soll das Simon Wiesenthal Center (SWC) getan haben, folgt man führenden deutschen Medien, die sich in dieser Frage nahezu wortgleich äußern? Es habe den Publizisten Jakob Augstein »auf eine Liste der zehn schlimmsten Antisemiten der Welt gesetzt«, glaubt der Tagesspiegel, »auf Platz 9 seiner jährlichen Liste der schlimmsten Antisemiten gesetzt«, meint die Tagesschau, »auf Platz neun einer Liste der weltweit zehn schlimmsten Antisemiten gesetzt«, behauptet die Frankfurter Rundschau, »zu einem der schlimmsten Antisemiten der Welt erklärt«, beteuert die Zeit, »auf Platz neun der Liste der zehn schlimmsten Antisemiten« nominiert, ist die FAZ überzeugt, »auf einer Rangliste der schlimmsten Antisemiten der Welt auf Platz neun gesetzt«, schreibt Spiegel Online, »auf Platz neun der gefährlichsten Antisemiten weltweit verortet«, erklärt die taz. Knapp daneben ist auch vorbei, kann man da nur konstatieren.
Die besagte Liste umfasst in Wahrheit nämlich die »2012 Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs« – also die zehn aus Sicht des SWC erwähnenswertesten antisemitischen respektive antiisraelischen Verunglimpfungen des vergangenen Jahres –, ist also wesentlich eher eine Sammlung markanter Zitate als ein Fahndungsaufruf. Und das Ziel ist es dabei offenkundig auch weniger, eine Rangliste entlang der machtbedingten Gefährlichkeit der Urheber dieser Zitate zu erstellen, als vielmehr, plakativ zu verdeutlichen, wie beängstigend groß das Spektrum des Judenhasses weltweit ist und wie sich der massenkompatible Antisemitismus in den einzelnen politischen Lagern äußert, selbst bei vermeintlich unverdächtigen, seriösen Akteuren. So erklärt sich auch, warum bei der Erstveröffentlichung der »Top Ten« im Jahr 2010 die renommierte amerikanische Journalistin Helen Thomas, immerhin dienstältestes Mitglied des White House Press Corps, auf dem ersten Platz landete und ein Jahr später der griechische Komponist und Politiker Mikis Theodorakis, eine Ikone der Linken, Dritter wurde. Ebenfalls in den letzten Jahren dabei: ein Mitglied der EU-Kommission, ein populärer Filmregisseur, ein prominenter Pastor und sogar die sozialen Netzwerke Facebook und Twitter.
Auch zwei Deutsche schafften es schon vor Augstein mit antisemitischen Äußerungen in die »Top Ten« des SWC: Thilo Sarrazin im Jahr 2010 und Hermann Dierkes zwölf Monate später. Darüber echauffiert hat sich damals allerdings kaum jemand: Bei dem einen interessierten sich die Medien erheblich mehr für dessen Äußerungen zum Islam, und der andere ist ein derartig bockbeiniger Desperado, dass ihn außerhalb der Linkspartei kaum jemand verteidigen mochte. Augsteins Nominierung dagegen sorgt nun für eine Welle der Empörung in nahezu sämtlichen Medien und in fast allen politischen Lagern (selbst beim Zentralrat der Juden in Deutschland, der augenscheinlich nach dem Motto »Lieber mit der Rotte heulen als im Abseits stehen« verfährt). Nicht wenige glauben, dem SWC allerlei Ratschläge erteilen zu müssen, wie es seine »Top Ten« zu gestalten und welche Kriterien es dafür zugrunde zu legen habe. In Abwandlung von Karl Luegers Diktum »Wer Jude ist, bestimme ich« heißt es nun: »Wer Antisemit ist, bestimmen wir« – und nicht etwa eine jüdisch-amerikanische Organisation, deren Namensgeber, ein Überlebender der Shoa, die »Suche nach Gerechtigkeit für Millionen unschuldig Ermordeter« zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte.
Das Gerücht über die Juden
Dabei gibt es beste Gründe, Augstein einen Antisemiten zu nennen, wie insbesondere Henryk M. Broder in der Welt, Rainer Trampert in Konkret und Stefan Gärtner in der Titanic (sic!) überzeugend nachgewiesen haben. »Die fantasierte jüdische Weltherrschaft«, so resümiert Trampert, »die Weltkriegsgefahr, die Aufregung über eine Fiktion und die Gleichgültigkeit gegenüber realen Kriegen und Kriegstoten, die Insinuationen, dass Israel hinter dem Mohammed-Film, dem Krieg in Syrien und der iranischen Bombe stecke und die Toten in den innerarabischen Machtkämpfen zu verantworten habe, die Wiederholung der Lüge vom Juden, der aus dem Antisemitismus Profit schlage, diese ganze Sammlung perfider Projektionen zeigt eine Verblendung, die mit einer Kritik an Aspekten israelischer Politik nichts mehr zu tun hat.« Hinzu gesellt sich noch der altbekannte Trick, »sich als Verfolgte[r] darzustellen«, wie Adorno analysierte, »sich zu gebärden, als wäre durch die öffentliche Meinung, die Äußerungen des Antisemitismus heute unmöglich macht, der Antisemit eigentlich der, gegen den der Stachel der Gesellschaft sich richtet, während im Allgemeinen die Antisemiten doch die sind, die den Stachel der Gesellschaft am grausamsten und am erfolgreichsten handhaben«. Oder, um es mit Stefan Gärtner zu formulieren: »Dass die Juden uns den Mund verbieten, ist das Gerücht über die Juden, das nach Adorno der Antisemitismus ist. Wer glaubt, dass es wahr sei, ist ein Antisemit. Augstein ist einer.«
Dass er nun trotzdem nahezu unisono freigesprochen wird, liegt maßgeblich daran, dass diejenigen, die sich zu seinen Anwälten aufschwingen, keinen Begriff vom (modernen) Antisemitismus haben und sich in Bezug auf Israel in der Regel kaum bis gar nicht von Augstein unterscheiden. »Die meisten wollen Augsteins antisemitisches Potenzial schlicht nicht erkennen, weil sie es mit ihm teilen«, schreibt Jennifer Nathalie Pyka zu Recht. Augsteins Auslassungen über den jüdischen Staat und seine Regierung hält beispielsweise der Zeit-Autor Frank Drieschner bloß für »triviale Feststellungen«, Nils Minkmar befindet in der FAZ, sie entstammten »keinem vagen Ressentiment«, sondern entsprächen »der Wahrheit«, und Christian Bommarius urteilt in der Frankfurter Rundschau, Augstein nehme sich »lediglich die Freiheit, die Regierung Netanjahu dafür zu kritisieren, wofür sie alle Welt kritisiert« – so, als wäre der fundamentale Unterschied zwischen Kritik und Ressentiment eine Frage von Mehrheiten. Henryk M. Broder hat die Unfähigkeit und den Unwillen, im Volkssport namens »Israelkritik« eine moderne und gefährliche Form von Judenhass zu erkennen, bereits im November 2011 auf den Punkt gebracht: »Für Antisemitismus gibt es in Deutschland seit 1945 einen klaren Maßstab: den Holocaust. Alles darunter ist eine Ordnungswidrigkeit.« Wenn nicht sogar ein Menschenrecht.
Und da Broder vom Simon Wiesenthal Center gewissermaßen als Gewährsmann für Augsteins Antisemitismus geführt wird, stürzen sich nun nicht wenige wie die Hyänen auf ihn. Niemand davon unternimmt auch nur den Versuch, Broders präziser und hellsichtiger Kritik mit Argumenten zu begegnen; an die Stelle einer inhaltlichen Auseinandersetzung treten teilweise hasserfüllte Beschimpfungen, die Bände sprechen. Der »Antisemitismusexperte« Klaus Holz etwa bezeichnet Broder im Deutschlandradio als »Pöbler«, Nils Minkmar nennt ihn in der FAZ den »Bud Spencer unter den deutschen Kommentatoren«, Joachim Petrick hält ihn in Augsteins Freitag für einen »hochtrabend dahergaloppierenden ruchlosen Rüstungslobbyisten des militärisch-psychiatrisch-pharmazeutischen Industriekomplexes der USA«. Für Christian Bommarius, Autor der Frankfurter Rundschau, ist der jüdische Publizist gar ein moderner Goebbels, der froh sein kann, dass er »bis heute frei herumläuft«. Es blieb Rabbi Abraham Cooper, dem stellvertretenden Direktor des SWC, vorbehalten, nüchtern klarzustellen: »Wir haben nicht mit Broder gesprochen, er hatte keinen Einfluss auf die Entscheidung. Aber ein Großteil unserer Mitglieder kennt Augstein nicht, deswegen wollten wir Broders Perspektive dazunehmen. Er ist ein in der jüdischen Gemeinde weltweit respektierter Wortarbeiter, und anders als wir ist er vor Ort in Deutschland. Augstein hat auf seine Kritik übrigens nie reagiert, das halte ich für sehr vielsagend.«
Die Grenzen des Unsäglichen
Apropos vielsagend: Kaum jemandem scheint aufgefallen zu sein, dass bereits die faktische Existenz einer ganz großen deutschen Koalition gegen das SWC und für Jakob Augstein, die von der FAZ bis zur taz und von der CDU bis zur Linkspartei reicht, einen Beweis dafür darstellt, wie falsch, um nicht zu sagen demagogisch die allenthalben – und natürlich auch von Augstein selbst – zu vernehmende Behauptung ist, der Antisemitismusbegriff werde inflationär verwendet und damit schändlich missbraucht. Ganz im Gegenteil ist durch die massive öffentliche Intervention zugunsten eines prominenten israelfeindlichen Publizisten – und genau das war ihr Ziel – die Grenze des Sagbaren (genauer: des Unsäglichen) noch einmal verschoben worden. Wer künftig behauptet, Israel führe »die ganze Welt am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs«, gefährde den Weltfrieden und pferche Palästinenser in einem Lager namens Gaza zusammen, kann sich im Falle von Kritik bequem auf den Freispruch für Augstein berufen – der ein Freispruch für Deutschland ist und zudem einem Persilschein für die gesamte »Israelkritik« gleichkommt. Selbst am Zentrum für Antisemitismusforschung ist man schließlich der Ansicht, dass derartige Äußerungen vielleicht »grenzwertig« sind, aber nicht antisemitisch (was das ganze Elend perfekt macht, doch keineswegs überraschend kommt).
Betrachtet man die gegenwärtige Debatte geschichtspolitisch, dann gesellt sich noch ein weiterer, nicht unwichtiger Aspekt hinzu: Nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Mauthausen hat Simon Wiesenthal alles daran gesetzt, nationalsozialistische Täter einem juristischen Verfahren zuzuführen, während sie in Deutschland geschützt und gedeckt wurden, Pensionen erhielten und wieder teilweise höchstrangige Ämter bekleiden durften. Als die meisten Altnazis nicht mehr lebten und es den Deutschen, nachdem sie sich wiedervereinigt hatten, schließlich auch noch gelang, einen finanziellen Schlussstrich unter die NS-Zeit zu ziehen, begannen sie, Mahnmale zu bauen, staatliche Gedenkveranstaltungen auszurichten, sich selbst für geläutert zu erklären und schließlich den moralischen Profit aus ihrer »Vergangenheitsbewältigung« einzufordern – wozu es auch gehört, die »Israelkritik« als »Lehre aus der Geschichte« zu verkaufen. Dass man diese Masche beim Simon Wiesenthal Center durchschaut, aus guten Gründen misstrauisch bleibt und auch deshalb regelmäßig Deutsche in die »Top Ten« der erwähnenswertesten antisemitischen Verunglimpfungen beruft, nehmen die Nachfahren und Erben der Täter dem Zentrum erkennbar übel.
Umso erfreulicher, dass man beim SWC nun Augsteins Nominierung bekräftigt und verteidigt. »Ich habe großes Verständnis dafür, dass Henryk M. Broder Augstein wegen dessen Agitationen mit Julius Streicher vergleicht«, sagt Efraim Zuroff, der Direktor der Jerusalemer Dependance dieser Einrichtung. »Augstein misst beim Thema Israel mit zweierlei Maß, macht aus Tätern Opfer, klammert den Terror der Hamas vollkommen aus. Seine Äußerungen sind ganz und gar empörend, diffamierend und ekelhaft.« Und Rabbi Abraham Cooper fordert: »Augstein sollte sich bei seinen Lesern und dem jüdischen Volk entschuldigen.« Dass er das nicht tun wird, darf als sicher gelten – so sicher, wie das SWC auch am Ende dieses Jahres wieder reichlich Auswahl haben wird, wenn es darum geht, die Ausfälle eines deutschen »Israelkritikers«, der kein Antisemit sein will, in die »Top Ten« zu hieven.
(Zuerst veröffentlicht auf Lizas Welt.)